Unsicherer gewordene Welt

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Verwaiste Kais statt emsiger Betriebsamkeit aus Schiffen und Kränen. Solche Bilder haben seit 2020 definitiv zugenommen. Und sie sind ein sichtbares Merkmal dafür, wie sehr sich die wirtschaftlichen Zeiten global gerade wandeln. Foto: Elena / stock.adobe.com - (Bild 1 von 1)

Ständiger Wandel gehört zum Wesenskern der Wirtschaftswelt. Das galt bereits, bevor im und nach dem Ersten Weltkrieg erstmals in großem Stil Frauen in die Berufswelt strömten – erst, um an der Front stehende Männer zu ersetzen, dann, um die durch Millionen von Gefallenen und Schwerstversehrten gerissenen Lücken zu schließen. Es galt, als ab zirka den 1970ern Computer und Fertigungsroboter die Produktion revolutionierten. Es galt ebenso, als ab den späten 1980ern eine weitere Welle der Globalisierung einsetzte. Diesmal eine, die Rohstoffbezug, Fertigung und Verteilung selbst bei einzelnen Waren auf Länder der ganzen Erde verteilte.

Allerdings kennt die Wirtschaftswelt bei allem Wandel ebenso Phasen, in denen vorhersagbare Bedingungen herrschen. Bei uns war das für grob die letzten 30 Jahre der Fall. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der fortschreitenden Globalisierung konnte sich eine durch Logistik aufs Umfassendste verwobene Welt entwickeln. Doch seit gut vier Jahren weist deren Fundament immer mehr Risse auf – und zwingt Unternehmen dazu, sich einmal mehr zu wandeln.

1. Das Ende der alten Zeiten – wieso die Welt unsicherer geworden ist

Augenscheinlich gab es in den 30 Jahren zwischen 1990 und 2020 vieles, was ganz und gar nicht für „ruhige Verhältnisse“ stand.

  • Der Wandel von der einstigen EWG zur EU ab 1993.
  • Chinas Wandel von einem Entwicklungsland zur „Werkbank der Welt“ und schließlich einer der größten Volkswirtschaften.
  • Die Deindustrialisierung in vielen westlichen Staaten hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft.
  • Das Entstehen und Platzen der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende.
  • Der Global War On Terror nach dem 11. September 2001 mit all seinen Folgen und Auswirkungen.
  • Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008.

Das alles bedeutete zweifelsohne Störungen für die Wirtschaft. Allerdings niemals gleichzeitig tiefgreifend, langanhaltend und global.

Trotz allem konnte sich die Weltwirtschaft in ihrer Gesamtheit daher in einem „ruhigen Fahrwasser“ weiterentwickeln. Man globalisierte und digitalisierte nach Leibeskräften, senkte dadurch nicht zuletzt die Preise und erhöhte die Produktvielfalt. Man baute die Logistik zu einer gigantischen Maschine aus, wie sie die Welt zuvor niemals gesehen hatte.

Eine Maschine, die es trotz erdumspannender Transportnetze mit teils Dutzenden Quellen schaffte, vom Uhrwerkschräubchen bis zum Reifen für gigantische Tagebau-Muldenkipper alles auf die Minute genau anzuliefern, wenn es gebraucht wurde. Lagerhaltung? Weg damit! Viel zu teuer im Vergleich mit fein ausbalancierten Just-in-Time-Netzen.

Heute, Mitte 2024, befindet sich die Welt seit nur wenig mehr als vier Jahren in einem umfassenden Wandel – und mit ihr die Wirtschaft.

  1. Die Pandemie sowie die damit verflochtene Chipkrisen zeigte erstmals praktisch auf, was zuvor nur theoretisch bekannt war: Alles Outsourcing und Offshoring hatte die Wirtschaft gleichsam leistungsfähiger, aber ebenso sehr viel fragiler und dadurch verletzlicher gemacht. Ein großer von China im Lockdown-Modus geschlossener Hafen, eine durch ein querschlagendes Schiff blockierte Meerenge, ein vergleichsweise kleiner Schneesturm in Texas genügten, um in ungezählten Firmen schwere Verwerfungen auszulösen – bis hin zum Totalstillstand über Wochen.
  2. Der Klimawandel zeigt sich insbesondere durch Extremwetterereignisse immer heftiger als massiver und teurer Störfaktor: Schneestürme, wo sonst höchstens einige Flocken fallen; niedrigwassertragende Flüsse, die keine Transportschiffe mehr passieren lassen; Fabriken, die die Produktion drosseln müssen, weil das Kühlwasser für Kraftwerke zu warm ist. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Und sie umfasst ebenso verschiedene Gesetzgebungen und zusätzliche Abgaben, um den Klimawandel zu bekämpfen.
  3. Russland fiel, zumindest für die meisten westlichen Staaten, als Wirtschaftspartner weg. Ebenso verhält es sich mit der Ukraine. Damit schloss sich für unabsehbare Zukunft eine Quelle für sehr viel mehr als nur Erdöl, Gas und Schwerindustrie-Rohstoffe. Gleichsam machen viele andere Staaten weiter, forcierten die Zusammenarbeit mit Russland sogar. Das sorgte für unterschiedliche Schieflagen.
  4. Der Ukraine-Krieg kurbelte zwar die Rüstungsindustrie an. Vor allem in Ländern, die wegen des Kriegs entweder selbst aufrüsten oder die Ukraine mit Waffen und Munition beliefern. Gleichsam gilt jedoch die alte Regel „Granaten bringen keine Rendite“, erzeugen also – im Gegensatz zu vielen anderen Investitionen – keinerlei lukrative Rückflüsse. Insbesondere für die kaufenden und einsetzenden Staaten.
  5. China, über weite Teile der vergangenen 30 Jahre vor allem Hersteller und Absatzmarkt, wird immer weniger „kompatibel“ mit dem demokratischen Teil der Weltwirtschaft: Wirtschaftsspionage, immer mehr Monopolbildung. Neuerdings ein zunehmend imperialistisches Auftreten gegenüber den Nachbarstaaten, allen voran Taiwan – und somit ebenfalls ein für die Weltwirtschaft unverzichtbares Land. Für nicht eben wenige stehen wir am Beginn eines Kalten Krieges 2.0, wobei diesmal die in vielerlei Hinsicht wichtigste Herzkammer der Weltwirtschaft nicht mehr aufseiten der westlichen Länder steht. Bereits in der Pandemie zeigte sich das. China war das einzige wirtschaftlich relevante Land mit einer drakonischen Zero-Covid-Politik und würgte damit in vielen anderen Staaten die Wirtschaft ab. Neuerdings schwächelt im Reich der Mitte zudem die seit Jahrzehnten nur massives Wachstum vermeldende Wirtschaft.
  6. In vielen Staaten tun sich immer breitere politische Gräben auf. Das führt unter anderem für dortige Unternehmen zu erheblich gestiegener Planungsunsicherheit. Denn viele weitreichende Entscheidungen sind dadurch oft nur eine Wahlperiode davon entfernt, zurückgenommen oder gar ins totale Gegenteil verkehrt zu werden – siehe etwa die sich verdichtenden Hinweise für ein eventuelles „Aus für das Verbrenner-Aus“.

Zusammengefasst: Die alten Regeln gelten nicht mehr; zumal zu diesen sechs großen Punkten noch viele kleinere hinzukommen; etwa Fachkräftemangel. Die Kosten steigen, die Partnerschaften werden brüchiger, die wie geschmiert laufenden Bänder der globalisierten Just-in-Time-Fertigung stocken und reißen. Um sich dem Wandel und der „neuen Unsicherheit“ anzupassen, gehen viele Unternehmen teils weite – und kreative Wege.

2. Zwischen Friendshoring und Notfallbevorratung: Wie Firmen mit dem Wandel umgehen

Was macht man als großer Konzern oder mittelständisches Unternehmen, wenn man die vorhersagbaren Verhältnisse der vergangenen 30 Jahre gewohnt ist und nun merkt, wie sehr diese immer mehr entgleiten? Eines sei bereits verraten: Resignation gehört nicht dazu.

Verstärkte Lagerhaltung

Just-in-Time bedingt jederzeit ungestörte Rohstoff- und Zuliefererketten, zumindest auf die Stunde genau. Wo dieses seit Jahrzehnten exekutierte Optimum immer seltener reibungslos funktioniert, oder wenigstens die realistischer werdende Gefahr dafür besteht, kehren sehr viele Firmen wieder zu mehr Lagerhaltung zurück.

Nicht in einer Form, die wie einst teils wochenlanges autarkes Operieren ermöglicht. Aber zumindest einer, die einige Tage zu überbrücken hilft. Die Erfahrung der zurückliegenden vier Jahre zeigt, dass das vielfach bereits genügt, um die schlimmsten Folgen zu verhindern.

Diversifizierte Logistik

Die bisherige Form der Logistik hat sowieso bereits aufgrund ihres klimatischen Fußabdrucks ein Ablaufdatum. Für viele Firmen ist die derzeitige „Allgemeinsituation“ deshalb ein Anlass, eine ebenso allgemeine Neuausrichtung zu forcieren. Der Begriff lautet zwar Grüne Logistik, allerdings handelt es sich dabei um zahlreiche Maßnahmen, die aufgrund ihrer Natur nicht nur dem Klimawandel, sondern ebenso anderen Herausforderungen der Gegenwart begegnen, etwa durch vermehrte Effizienz.

Re-, Friend- und Nearshoring

Die Globalisierung bedeutete nicht nur ein gigantisches Outsourcing-Programm, sondern ebenso massives Offshoring in zahlreiche weit entfernte Länder. Sowohl bei China als auch generell bloß weit entfernten Standorten entsteht deshalb gerade eine Gegenbewegung. Das Stichwort lautet „Rückverlagerung an nähere und/oder zuverlässigere Standorte“, dabei gibt es jedoch einige Unterschiede:

  • Reshoring: Das generelle Rückverlagern von Produktion(steilen) ins Mutterland des Konzerns.
  • Nearshoring: Rückverlagerung weit entfernter Prozesse in die Nähe der Heimat.
  • Friendshoring: Verlagerung offgeshorter Prozesse in „freundlichere“ oder stabilere Staaten, ungeachtet der Entfernung.

Egal was welches Unternehmen davon genau betreibt, für China sind das alles keine guten Nachrichten.

Mehr Aufmerksamkeit

In den vergangenen Jahren war viel von wirtschaftlicher Dynamik zu lesen. Allerdings war diese stets positiv konnotiert. Heute hingegen haben wir es mit einer Situation zu tun, zu der der Begriff Volatilität viel besser passt: Eine nur noch äußerst schlecht vorhersagbare Zukunft, bei der zahlreiche Szenarien praktisch gleichbleibende Eintrittswahrscheinlichkeiten aufweisen. Die Folgen:

  • Unternehmen können nur für wenige Szenarien detaillierte Vorbereitungen treffen, wodurch eklatante Lücken verbleiben, oder
  • sie müssen viele Szenarien auf einen völlig unspezifischen kleinsten gemeinsamen Nenner zusammenfassen, wodurch die Antworten viel zu allgemein erfolgen.

Beides ist kein zielführender Ansatz. Das Einzige, was in dieser Zeit wirklich noch funktioniert, ist eine sehr breite Aufmerksamkeit in Verbindung mit einem Unternehmen, das aufgrund seiner Ausrichtung ungleich flexibler reagieren kann – Stichwort Agile Leadership.

Ja, das bedeutet (auch), mehr „auf Sicht zu fahren“, was langfristige strategische Planungen bisheriger Prägung massiv erschwert. Etwas anderes lässt die aktuelle Lage jedoch schlichtweg nicht zu.

Nachhaltiges Wirtschaften

Für viele Firmen gestatteten die vorhersagbaren Verhältnisse der zurückliegenden Jahrzehnte ein aus heutiger Sicht risikoreiches Vorgehen: Fokus auf Wachstum, auf stets deutlich bessere Zahlen als im Vorjahr. Vielfach wurde deshalb unter anderem auf Familienbetriebe regelrecht herabgesehen – weil diese meist nach einem anderen, nachhaltigeren Rezept betrieben werden.

Schon vor Pandemiebeginn zeigte sich, dass dieser nachhaltigere Ansatz so falsch nicht war. Binnen vier Jahren avancierte er jedoch in vielen Branchen zu einem regelrechten Leuchtstern: Kein Wachstum um des Wachstums Willen; nicht bloß Gewinnmaximierung. Stattdessen ein sorgfältigeres Vorgehen. Ein Schritt nach dem anderen, Erfolge konsolidieren, ökonomische Erfolge als lediglich gleichberechtigter Part zwischen Ökologie und Sozialem.

Das mag zwar ebenfalls kein vorbehaltloses Geheimrezept gegen unsichere Zeiten sein. Aber zumindest sorgt es für ein stabileres Firmenfundament – das deshalb selbst von größeren wirtschaftlichen „Beben“ nicht ganz so leicht beeinträchtigt wird. pr

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